Ich kann es nicht mehr hören! Um Work-Life-Balance geht es einem Buch, das ich gerade lese. Mein Aufschrei kommt nicht mal mehr vom geläufigen, doch glücklicherweise schon wieder kritisierten Wort „Work-Life-Balance“, das so klingt, als sei die Arbeit nicht Teil des Lebens, sondern ein Extra-Bereich, in dem wir scheinbar nicht leben.
Mich nerven viel mehr die vielerorts propagierten Modelle, die, gerne unterstützt durch Studien und Umfragen, aufzeigen sollen, welche Bereiche ein Mensch in seinem Leben haben muss, um glücklich zu sein und in welchem Maß. Die behaupten zu wissen, was für alle und jeden richtig ist.
Praktisch sieht das dann so aus:
Sie lesen einen Lebensratgeber, gehen in ein Seminar oder zu einem Coach und werden gebeten, Ihre Lebensbereiche zu nennen. Sie sagen da vielleicht: „Familie. Arbeit. Sport.“, denn damit verbringen Sie Ihre Zeit, wenn sie nicht Grundbedürfnisse wie Schlafen oder Essen befriedigen.
„Und was noch?“ – Blöd, wenn Ihnen dann schon nichts mehr einfällt. Denn da fehlen ja mindestens noch Hobby/Freizeit und Gesundheit. Und was ist mit Spiritualität? Und Weiterbildung? Und Ihre Freunde? Und sozialer Dienst?
Sodann werden Sie aufgefordert, die je nach Modell aufgeführten Lebensbereiche beispielsweise in einem Spinnennetz-Diagramm darzustellen. Sie bekommen also ein Blatt Papier, auf dem die Lebensbereiche kreisförmig genannt sind. In der Mitte ist ein Punkt, der Nullpunkt. Und nun sollen Sie für jeden Bereich eine Selbsteinschätzung vornehmen und diese auf einer Erfüllungs-Skala von 0 – 100% eintragen. Dann verbinden Sie die jeweiligen Prozent-Punkte miteinander. Und schon wird beäugt, wie zackig oder kreisrund das Ergebnis aussieht.
Und da wird es kritisch!
Unter die Lupe zu nehmen, womit man so seine Zeit verbringt und zu prüfen, ob das für einen so passt, wunderbar. Da spricht nichts dagegen. Wenn es aber nun heißt, Ihr Ziel müsse sein, eine möglichst kreisrunde Darstellung, sprich überall 100% zu erreichen, sollten sie hellhörig werden. Denn hier wird überhaupt nicht mehr gefragt, was Sie eigentlich wollen und ob Sie glücklich sind mit Ihrem Leben, sondern hier wird pauschalisiert und einfach ein Modell runtergeleiert. Es wird weisgemacht, der Mensch müsse alle aufgeführten Bereiche in gleichem Maße ausgefüllt haben und wenn nicht, müsse er eben auf 100% optimieren. Schön in selbst festgelegten Steigerungsraten, aber bitte stetig. Und mit Zeitplanung dahinter. Klaro.
Was für ein Bullshit!
Wenn sich jemand in den Burnout rackert und außer Arbeit nichts mehr denkt, spürt und tut, ist es natürlich an der Zeit, ihm in Sachen gesunde Balance zu helfen. Daran will ich nicht rütteln. Doch ich hab all die Coachingmethoden und scheinbar weisen Ratschläge von Leuten satt, die meinen zu wissen, was für alle das Beste oder DER richtige Weg zum erfüllten Leben sei.
Lustig wird es übrigens in solchen Fällen, in denen beispielsweise jemand sein Hobby zum Beruf gemacht hat. Also seine größten Leidenschaften in der Arbeit vereint, sehr viel Zeit damit verbringt und dabei glücklich, gesund und erholt ist. Da gibt es tatsächlich Berater und Bücher die meinen, man müsse sich dann doch bitte neue Hobbys suchen, der Balance wegen.
Ich hatte vor Jahren in einem Führungs- und Selbsteinschätzung-Seminar mal einen Trainer, der mir im Rahmen einer solchen Übung einreden wollte, ich müsse dringend meinen nicht vorhandenen Kinderwunsch noch mal ernsthaft überdenken, denn Kinder gehörten zum ausgewogenen Leben einer Frau. – Interessant, das manche Menschen sich anmaßen, anderen in so wichtige Bereiche und Entscheidungen reinreden zu wollen und sich dabei darauf berufen, dass die Mehrheit es ja so täte.
Professionelle Coachs reden Ihnen übrigens dergleichen nicht ein und raten Ihnen auch nicht, wie Sie Ihr Leben zu leben haben. Sie stellen sehr wohl tiefgehende Fragen zur Selbstreflexion oder bringen neue Aspekte und Ideen ein. Dabei sorgen sie aber immer für Augenhöhe und fordern Ihre Selbstverantwortung ein.
Daher ist dieser Artikel ein Plädoyer für Besserwisserei in Bezug aufs eigene Leben. Doch das der anderen sollte man ihnen tunlichst selbst überlassen!
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